Um Großes zu erreichen, zählt jeder einzelne Schritt. Mein Weg auf den Mount Everest

Helga Hengge hat als erste Deutsche den Mount Everest erfolgreich bezwungen. Auf ihrem Weg zum Gipfel mussten sie und ihr Team so manche Herausforderung meistern. In ihrer packenden Schilderung macht sie deutlich, mit welcher Haltung große Ziele nicht nur am Berg erfolgreich gemeistert werden, welche Teamleistung dahintersteckt und was wir als Unternehmen von ihrer Erfahrung lernen können.

Basecamp, 5.200 Meter

Die Nordwand des Mount Everest stand wie eine Göttin: größer, höher, mächtiger, als ich sie mir vorgestellt hatte, ihr Gipfel fern und unnahbar. Ich hatte lange zugeschaut, wie die Schatten der umliegenden Berge durch die steile Wand hinaufwanderten. Über unseren Zelten war die Nacht schon hereingebrochen, der Wind wehte eisig von den Gletschern. Die breite Gipfelpyramide jedoch hielt die Strahlen der Sonne in ihrem Bann, und mich beschlich plötzlich das Gefühl, zu klein zu sein für diesen Berg. Es gibt viele Gründe, warum Bergsteiger den Aufstieg zum Gipfel nicht schaffen. Lawinen, steile Gletscherabbrüche, eisige Winterstürme sind es nicht, die sie daran hindern würden. Es sind vielmehr die gleichen Schwierigkeiten, die uns das Vorwärtskommen auch im richtigen Leben oft schwer machen. Nämlich nach Rückschlägen die Kraft und auch den Mut zu finden, wieder aufzustehen und weiter aufzusteigen; auf den vielen, oft unübersichtlichen Etappen das große Ziel nicht aus den Augen zu verlieren und in schwierigen Zeiten die Begeisterung und den Zusammenhalt im Team hochzuhalten.

Team

Der Aufstieg auf den höchsten Berg der Welt dauert zwei Monate, am Berg im Zelt. Startpunkt auf der Nordroute in Tibet ist das Basecamp auf 5.200 Meter Höhe. Ich hatte drei Jahre lang trainiert, um bei dieser Expedition dabei zu sein, hatte mehrere 6.000er und einen kleinen 8.000er im Himalaya bestiegen, um Erfahrung mit der Höhenluft, der eisigen Kälte und dem kargen Leben am Berg im Zelt zu sammeln. Trotzdem sah ich nicht aus wie der typische, heroische Bergsteiger mit rauem Bart und unbändiger Muskelkraft, als wir im Basecamp ankamen. Und die Männer in meinem Team hätten sicher nicht viel darauf gewettet, dass ich es bis zum Gipfel schaffen würde. Aber am Berg geht es nicht darum, dass jeder den größten Rucksack tragen kann. Es sind ganz unterschiedliche Stärken, Erfahrungen und Talente, die ein Team erfolgreich machen. Respekt muss man sich verdienen, Schritt für Schritt, Meter um Meter, den bekommt dort niemand geschenkt. Wer ein so großes Ziel erreichen will, muss zeigen, dass er bereit ist zu kämpfen, und da spielt es keine Rolle, ob Mann oder Frau, blond oder grau. Es geht darum, seinen Platz im Team zu finden und einen wertvollen Beitrag zum Gelingen der Expedition zu leisten.

Trainingsphase am Berg

Die ersten sechs Wochen am Everest verbrachten wir damit, vier Höhencamps einzurichten, jedes genau eine Tagesetappe vom nächsten entfernt. Camp 1 befand sich auf 7.000 Metern, Camp 2 auf 7.600 Metern, Camp 3 auf 7.900 Metern und Camp 4 auf 8.300 Metern. Jedes Camp war ausgestattet mit Zelten, Schlafsäcken, Kochgeschirr und Proviant. Wir näherten uns unserem Ziel in Etappen nach dem Motto „Steige hoch und schlafe niedrig“, um uns langsam an die sauerstoffarme Luft zu gewöhnen, die Route kennenzulernen, Grenzen zu testen und als Team zusammenzuwachsen. Es waren die Launen des Jetstroms, die unseren sorgfältig ausgearbeiteten Plan immer wieder störten. Dann wurden aus den großen Herausforderungen, vor denen wir so stolz gestanden hatten, plötzlich fast unüberwindliche Probleme. Eisige Winterstürme brachen ohne Vorwarnung über den Berg herein und hielten uns tagelang im Basecamp gefangen. Wenn dann die Aussichten düster waren, sank die Stimmung im Team, und wir fingen an, uns über den Berg zu ärgern und mit unserem Schicksal zu hadern. Manche fielen in Schwermut, andere stemmten sich der Unsicherheit mit Ärger und Wut entgegen. Die Sherpas, die Spezialisten am Berg – oft genannt „die Tiger des Himalaya“ –, verloren nie den Glauben. Sie vertrauten dem Berg und ihrer Kraft und bewahrten auch in Zeiten der Not immer eine bewundernswerte Ruhe. Sie wussten, dass mit großen Herausforderungen immer auch große Schwierigkeiten kommen und dass es am Everest darum geht, Schwierigkeiten zu überwinden und über sich selbst hinauszuwachsen.

Kleine Schritte zählen

Auf dem windumtosten Grat über 7.000 Meter Höhe muss man bewusst kleinere Schritte machen, damit der Körper Zeit hat, sich zwischen jedem Schritt zu erholen, und man dann Tausende von Schritten tun kann, um weiter aufzusteigen. Trotzdem schaffte ich selten mehr als 175 Schritte am Stück, bevor ich meinen Rucksack sinken ließ und mich auf ihn setzte. Den Oberkörper über den Eispickel gebeugt, musste ich erst mal dreißig bis vierzig Mal ein- und ausatmen, bevor sich mein Herz wieder beruhigte. Und dann hob ich den Kopf; und weil ich rückwärts am Berg saß, schaute ich nicht mehr auf die unendliche Strecke, die noch so bedrohlich über mir lag, sondern ich schaute auf einmal hinaus und hinunter und konnte auf einen Blick erkennen, wie viel wir schon erreicht hatten. Ich wünsche mir das manchmal für das richtige Leben, dass wir uns öfter die Zeit nehmen, uns umzudrehen und zurückzuschauen. Ich glaube, wir würden oft erkennen, dass wir Großes schon geschafft haben und dass das, was vor uns liegt, im Vergleich dazu nicht so gewaltig ist.

Aufstieg zum Gipfel

In der letzten Maiwoche war es endlich so weit. Der herannahende Monsun hatte den Jetstrom in höhere Lüfte verschoben, und im Gipfelbereich war es relativ warm und windstill. Unser Bergführer Russell gab den Startschuss für den Aufstieg, und Sherpa Loppsang führte das Gipfelteam an. Kurz nach Mitternacht verließen wir die Zelte auf 8.300 Metern und stiegen im Licht des Mondes durch abfallendes Geröll und steile Felswände auf zum Grat. Der Anfang war hart, und es dauerte eine Weile, bis ich einen Rhythmus gefunden hatte und mein Körper sich aufwärmte. Als der Mond unter die tief liegenden Wolken tauchte und verschwand, hatten wir den Grat erreicht und konnten zum ersten Mal in die Täler Nepals schauen. Loppsang und ich knieten vorsichtig im gefrorenen Schnee der Wechte und schauten hinaus, weit über die unzähligen Gipfelspitzen, in die Stille der Nacht. Und ich wusste auf einmal, warum ich hierhergekommen war: Hier waren die Götter zu Hause, im Land des Schnees, im Himalaya. Kurze Zeit später trennte sich der Himmel von der Erde, und erste Lichtschwaden wanderten über die Gipfelspitzen des gewaltigen Gebirges. Als die Sonne zu uns aufstieg, wärmte sich die Luft, und unsere Schritte wurden leichter. Ein himmlischer Morgen breitete sich aus, und zum Gipfel waren es nur noch wenige hundert Meter. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, auf ihn zuzugehen, sich zu drehen und zu drehen und nur noch blauen Himmel zu sehen nach all den Wochen, in denen wir immer nur hinaufgeschaut hatten in die eisige Nordwand, die wie eine unüberwindliche Mauer über uns stand. Zwei Monate, in denen es auch einige Tage gegeben hatte, an denen ich am liebsten alles hingeschmissen hätte, an denen ich keine Lust mehr hatte auf Abenteuer und harte Arbeit am Berg, Tage, an denen es mir zu kalt und zu anstrengend war und ich am liebsten nach Hause gefahren wäre, um in eine heiße Badewanne zu sinken und nie mehr an diesen Berg zu denken. Dass ich das nicht getan habe, habe ich meinem Team zu verdanken, ganz besonders den Sherpas und unserem Bergführer, der es immer wieder geschafft hat, uns für diesen Berg zu begeistern. Einmal war Russell im Basecamp zu mir gekommen, als schon viele Tränen geflossen waren – nicht seine, sondern meine –, und sagte: „Helga, du kannst schon nach Hause fahren, aber du solltest es erst tun, wenn du dir sicher bist, dass du dein Bestes gegeben hast. Das bist du dem Berg schuldig und der Idee, mit der du in dieses Abenteuer gestartet bist.“ Und er hatte recht. Ich habe oft noch einmal eine Nacht darüber geschlafen und bin am nächsten Morgen aufgewacht und habe gedacht: „Einmal probier‘ ich‘s noch. Einmal geb‘ ich noch mein Bestes“. Und diese vielen Besten übereinandergestapelt haben mich auf den höchsten Berg der Welt geführt, auf ein kleines Schneefeld, wo nur noch der Himmel höher ist.

Über Helga Hengge

Helga Hengge erreichte als erste Deutsche den Gipfel des Mount Everest und die Seven Summits – die höchsten Berge der sieben Kontinente. Sie startete ihre Karriere in München bei der Zeitschrift VOGUE als Moderedakteurin. 1991 zog sie nach New York, arbeitete als freie Moderedakteurin und studierte Marketing, Philosophie und Film an der New York University. 1996 entdeckte sie ihre Leidenschaft für das Freeclimbing und erklomm in kurzer Folge viele Gipfel auf ihrem Weg zur Extrembergsteigerin. Am 27. Mai 1999 schaffte sie den Aufstieg zum Gipfel des Mount Everest über den Nordost-Grat in Tibet. Helga Hengge ist Keynote-Rednerin und Autorin zahlreicher Publikationen. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in der Nähe von München.

BUCHTIPP

Helga Hengge: Nur der Himmel ist höher.
Mein Weg auf den Mount Everest.
Gebundene Ausgabe, 320 Seiten plus 12 Seiten Bildteil
ISBN 978-3000311406