„Über Nacht“ zur digitalen Neuordnung der Arbeitswelt

EIN GASTBEITRAG VON LILIAN MATISCHOK

 

Wenn Sie an diese Situation denken, was für eine Jahreszahl steht auf dem Kalender: 1999 oder 2019?
Seit vielen Jahren bieten moderne IT- und Kommunikations- Technologien und allgegenwärtige Internetanbindung die Möglichkeit, von nahezu jedem Ort zu arbeiten, auf Daten des Unternehmens zuzugreifen,
erreichbar zu sein und per Chat, Audio oder Video zu kommunizieren. Manche Unternehmen haben mobiles Arbeiten früh und im großen Stil eingeführt, teilweise diese Entscheidung aber auch wieder rückgängig gemacht. Erst der äußere Zwang durch die Einschränkungen während der Corona-Pandemie hat quasi über Nacht zur breiten Einführung des Home Offices geführt.

Funktionierende Technik ist sowohl Treiber als auch notwendige Voraussetzung für die Einführung von mobilem Arbeiten. Eine weitere Voraussetzung ist, dass Mitarbeiter und Führungskräfte die Technik beherrschen und sich auf die neue Arbeitsweise einlassen.

Was bei planmäßiger Einführung von mobilem Arbeiten Standard ist, ist unter Corona-Bedingungen eher die Ausnahme: Die Vorbereitung der Mitarbeiter durch entsprechende Qualifizierungsmaßnahmen und die Sicherstellung von rechtssicheren betrieblichen Regelungen und Maßnahmen zum Thema IT-Sicherheit ist an vielen Stellen noch nachzuholen.

Es gibt aber noch weitere Hürden zu nehmen.
2011 – 2012 habe ich bei der Robert Bosch GmbH eines der ersten Pilotprojekte zur Einführung von mobilem und zeitlich flexiblem Arbeiten geleitet. Hier hat sich schnell gezeigt, dass sich neben technischer Ausstattung und Qualifizierung vor allem Herausforderungen bezüglich Zusammenarbeit, Selbstorganisation und Führung ergeben. Will man dauerhaft Home Office einführen und die Vorteile nutzen, ist es aus meiner Sicht nötig, hierzu in Weiterbildung, Kommunikation, Einführung neuer Arbeitsweisen und Unterstützung des kulturellen Veränderungsprozesses zu investieren.
 


  • Ich bin davon überzeugt, dass der durch die Corona-Krise erzeugte Sprung bezüglich Digitalisierung und neuen Arbeitsweisen zu dauerhaften Veränderungen der Arbeitswelt führen wird und der Rückweg in die „alte Normalität” versperrt ist.


Für Vertriebs- und Kundendienst-Mitarbeiter sowie alle, die viele Außenkontakte haben, ergeben sich weitere Herausforderungen. Gerade kleine und mittlere Unternehmen müssen sehr flexibel darauf reagieren, welche Tools ihre Kunden, Zulieferer und Partner nutzen. Das führt derzeit dazu, dass diese Mitarbeiter täglich mehrfach das Videokonferenz-Tool wechseln müssen und alle Tools gleichermaßen souverän bedienen können sollten, auch bei Störungen im privaten Umfeld. Auch die Pflege von guten Geschäftsbeziehungen, die vorher vor allem durch Besuche oder auf Messen stattgefunden hat, ist in den virtuellen Raum gewandert. Beratungsprozesse oder die gemeinsame Erarbeitung von Anforderungen bedingen einen souveränen Umgang mit virtuellen Moderations-Situationen und Kollaborations-Tools. Die Einführung von digitalen Vertriebskanälen, virtuellen Ausstellungsräumen oder Service-Konzepten wie Fernwartung ändern sowohl das Stellenprofil als auch die dazu notwendigen Qualifikationen enorm. In vielen Unternehmen kann man beobachten, dass aus der Not heraus entstandene Lösungen das Potential haben, dauerhaft bessere und kostengünstigere Vertriebsund Service-Konzepte einzuführen und einen Teil der Geschäftsreisen überflüssig zu machen.

In der Produktion und Logistik, vor allem in Ländern mit hohen Lohnkosten wie Deutschland, gibt es seit Jahren einen Trend zur Automatisierung. Viele Unternehmen versuchen, die Corona-Sondersituation durch Maßnahmen zur zeitlichen oder räumlichen Entzerrung zu bewältigen, teilweise gefolgt von weiterer Automatisierung. Diese Maßnahmen sind dort, wo aufgrund von Nachfragerückgang Kurzarbeit herrscht, einfacher realisierbar. Schwierig ist es in den Branchen mit erhöhter Auslastung. Hier lohnt es sich, über die Unternehmens- und Branchengrenzen hinweg nach neuen Möglichkeiten der Zusammenarbeit zu suchen.

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Themen dabei sind vor allem:

  • Wie kommen wir von Anwesenheits- zu Ergebnisorientierung?
  • Welche Spielregeln und Vereinbarungen müssen bzgl. Erreichbarkeit, Antwortzeiten, Leistungskontrolle eingeführt werden?
  • Wie sorgen wir für klare Ziele, Verantwortlichkeiten und Erwartungen, Transparenz über Erreichtes und Feedback?
  • Wie schaffen wir es, trotz räumlicher Distanz gut abgestimmt am gleichen Ziel zu arbeiten und den Überblick über den Fortschritt zu behalten?
  • Wer kann sich gut selbst organisieren? Und wer braucht in dieser Situation stärkere Führung oder Struktur?
  • Wie funktioniert Zusammenarbeit und Führung in gemischten Situationen, die einen vor Ort im Büro, die anderen vom Home Office?
  • Wie gelingt es, soziale Kontakte, Wir-Gefühl und informellen Austausch zu fördern? Wie verhindert man soziale Isolation? Wie bekommen wir mit, wie es Mitarbeiter oder Kollegen geht?

Die Gelegenheit, informelle Gespräche zu führen und kollegiale Beziehungen zu pflegen, sollte aus meiner Sicht in jedem Kalender ausreichend Platz finden, auch weil Beziehungen und Wir-Gefühl für viele Menschen ein wesentlicher Motivations- und Zufriedenheitsfaktor sind.

Die Herausforderung für Menschen aller Funktionen besteht darin, in kurzer Zeit viel Neues zu lernen bei gleichzeitiger Sorge und großen Veränderungen im Alltag. Diese Situation erzeugt bei vielen Menschen Überforderungsgefühle und Stress. Die neuen Vorgehensweisen sind in vielen Fällen weder stabil noch effizient. Management und Führungskräfte können die gemeinsame Bewältigung der Situation unterstützen, indem sie realistische Erwartungen, klare Kommunikation, Geduld mit den Lern- und Veränderungsprozessen und achtsamen Umgang mit allen Beteiligten zeigen.

In den nächsten Monaten und Jahren wird erfolgsentscheidend sein, ob und wie Unternehmen nachhaltig die Chancen der Digitalisierung nutzen, ihre Mitarbeiter qualifizieren, passende digitale Strategien entwickeln und die begonnene Transformation auf die Unternehmensziele hin anpassen und weiterentwickeln.


Lilian Matischock


TYPISCHE GRÜNDE UND TREIBER FÜR DIE EINFÜHRUNG VON MOBILEM ARBEITEN:

  • Hoher Anteil von Reisetätigkeit, z. B. Außendienst, Beratung, Kundenprojektarbeit
  • Internationale Zusammenarbeit über mehrere Zeitzonen
  • Einsparung Büro-Miete oder Platzmangel auf Bürofläche
  • Alternative zum konzentrierten Arbeiten bei Großraumbüro-Situation
  • Vorhandene technische Möglichkeiten, dadurch Nachfragedruck seitens Mitarbeiter
  • Gewinnen und Binden von qualifizierten Mitarbeitern:
    bessere Vereinbarkeit Familie und Beruf, Reduktion von Pendelzeiten, Vermeidung privater Umzüge
  • Imagegewinn als moderner Arbeitgeber
  • Kontaktbeschränkungen Corona-Pandemie


VORBEHALTE FÜHRUNGSKRÄFTE

  • Delegieren und kontrollieren von Aufgaben
  • Kontroll- und Machtverlust
  • Erreichbarkeit, Verfügbarkeit, Antwortzeiten
  • Umgang mit unmotivierten Mitarbeitern und Leistungsdefiziten
  • Mehraufwand für Kommunikation und Führung

VORBEHALTE MITARBEITER

  • Sorge vor „Rund-um-die-Uhr-Erwartung”
  • Keine Grenzen zwischen Arbeits- und Privatleben, höherer Stress
  • Fehlende Sichtbarkeit / Anerkennung der Arbeitsleistung im Homeoffice, Nachteile bzgl. Beförderung und Gehalt
  • Überforderung mit der Technik
  • Soziale Isolation, fehlendes Wir-Gefühl

Lilian Matischok engagiert sich als Expertin für „Digitale Transformation“ und „Industrielle Plattform-Ökonomie“ in der Arbeitsgruppe “digitale Geschäftsmodelle” der Plattform Industrie 4.0. Die Maschinenbau-Ingenieurin
war über 20 Jahre als Managerin und Expertin in Strategie-, Organisations- und Technologie-Entwicklung in software-intensiven Systemen bei der Robert Bosch GmbH tätig, zuletzt als Abteilungsleitung im Industrie 4.0-Umfeld. Seit 2020 unterstützt sie als Freiberuflerin produzierende Unternehmen bei der digitalen Transformation, bei der Umstellung des klassischen Produkt-Geschäfts auf digitale & Service-Geschäftsmodelle sowie bei der erfolgreichen Zusammenarbeit in plattformbasierten Ökosystemen.

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